Die Ausstattung der evangelischen Kirche in Balhorn

- ein seltenes Beispiel einer erhaltenen neubarocken Kirchenausstattung des 19. Jahrhunderts -

Gutachten von Frau Dr. Doris Böker - erstellt im Januar 2003

Die evangelische Kirche in Balhorn, die im alten Ortskern auf einem leicht erhöhten Kirchplatz liegt, bildet bauhistorisch gesehen auf den ersten Blick ein Pasticcio (Anm. Webmaster Armin Geselle: Zusammenfügung unterschiedlicher Elemente zu einem einheitlichen Ganzen), dessen Qualitäten sich unter rein ästhetischen Gesichtspunkten möglicherweise nicht unmittelbar erschließen. Aus denkmalkundlicher Sicht sind allerdings weitere Aspekte zu beachten, die den Wert des Gebäudes erschließen. Vorwegnehmend kann festgehalten werden, dass die Kirche nicht nur ein baugeschichtliches Zeugnis für die Orts- und Regionalgeschichte darstellt. Darüber hinaus ist sie zum einen als Werk eines der Hannoverschen Schule angehörenden Architekten von überregionalem Interesse und zum anderen durch die komplett erhaltene neubarocke Ausstattung im Kontext des historistischen Kirchenbaus am Ende des 19. Jahrhunderts von Bedeutung. Mit den folgenden Erläuterungen sei diese Einschätzung begründet.

Der heutige Kirchenbau besaß einen Vorgänger, von dem lediglich noch der Chorturm des 15. Jahrhunderts überkommen ist, der 1724 eine neue Haube erhielt. Innenansicht Das mittelalterliche Schiff wurde in den Jahren 1743 - 48 nach Plänen des Kasseler Landbaumeisters Giovanni Ghezzi (1677 - 1746) durch einen neuen, schlicht gestalteten Saal mit innen runder und außen polygonaler, westlicher Apsis ersetzt. Seine heutige Gestaltung erhielt der Bau jedoch erst 1893-1894 durch die kreuzförmige Erweiterung und die damit einhergehende Umgestaltung des Innenraums.

Projektverfasser für diesen einschneidenden Um- und Ausbau war der aus der Hannoverschen Schule stammende Architekt Gustav Schönermark (1854-1910), der zwischen 1892 und 1901 zunächst freischaffend, dann als Konsistorialbaumeister in Kassel tätig war. In dieser Funktion erarbeitete er rund fünzig Projekte für Kirchen und Pfarrhäuser, die bis heute im Erscheinungsbild der Dörfer im nördlichen Hessen eine Rolle spielen. Als Schüler C.W. Hases war Schönermark der dogmatischen Variante der Neugotik und dem damit verbundenen Anspruch der Material- und Werkgerechtigkeit verpflichtet, der eine Verwendung "echter" Materialien und eine aus ihnen entwickelte Konstruktion forderte.

Ebenso wie das historische Arbeiten in der Beherrschung des überlieferten Formenkanons der Sakralbaukunst für Schönermark einerseits eine Grundbedingung darstellte, war es andererseits selbstverständlich, dass dieses Repertoire die Grundlage für den eigenschöpferischen Umgang bei der Baukörper- und Raumgestaltung bildete, wie er es auch bei der Balhorner Kirche realisierte.

Der seitlichen Erweiterung der Balhorner Kirche liegt Schönermarks denkmalpflegerische Überlegung zugrunde, wonach alles Vorhandene zu erhalten und Neues nur anzubauen sei. Nach dieser Zielsetzung wurde die alte Form des Saales zwar bewahrt; er erhielt aber zwei rechteckige Anbauten, die östlich mit dem Chorbeginn enden und nach dem Vorbild des Schiffs mit einer Voutendecke geschlossen wurden. Die so entstandene zentrale Kreuzanlage bildete eine Raumform, die mit den damaligen liturgischen Vorstellungen im protestantischen Kirchenbau übereinstimmte.

Schönermark erzeugte die Zentralraumtendenz insbesondere durch die Anbringung von Emporen in den Anbauten und im Westen des Schiffs, indem er die Brüstungen über die sie tragenden steinernen Stichbogenarkaden hinweg in den Saal hineinschwingen und sich dort zu einer einzigen zusammenschließen ließ. Jede Empore wird von einem im Stück gearbeiteten stämmigen Mittelpfeiler mit abgefasten Ecken getragen. Er wird nicht bis zur Brüstung hochgeführt, sondern geht über dem flachen, angedeuteten Würfelkapitell in ein Stück Mauer über, das jeweils ein großer, in prallen Formen skulptierter geflügelter Engelskopf besetzt, von dessen Hals herab sich ein schweres Fruchtgehänge über den Pfeiler legt.

Aus dem Mauerstück entwickeln sich die Segmentbögen, deren Kanten abgerundet sind und die im Unterzug einen eingetieften Fries aufnehmen. Die Stärke der Bögen und Pfeiler sowie ihre auffallende Rundung lassen sie vollplastisch wirken, so dass der Eindruck entsteht, sie seien aus dem Mauerzusammenhang herausgearbeitet worden, um ihr Volumen erfahrbar zu machen. Diesen Stimmungswert von Dichte und Massivität intensivieren die applizierten Dekorationselemente wie die Keilsteinvoluten mit dem ausladenden Ranken-Blatt-Werk im Scheitel der Bögen, die sich formenreich ausdetailliert präsentieren. Körperlichkeit wird unmittelbar thematisiert in den Skulpturen von Caritas und Fiducia, die auf den Emporen in der Pfeilerachse die Decke tragen.

Das Deckengemälde, das der wiederholt mit Schönermark zusammenarbeitende Hannoveraner Maler Karl Wiederhold (1863 - 1961) schuf, zeigt im Schiff den auferstandenen Christus und König David mit der Harfe, vornehmlich in Gelb- und Rosatönen, während in den Kehlen auf elfenbeinfarbenem Grund mit lachsrot abgesetzten Streifen in von aufgemalten Kartuschen gerahmten Medaillons die Seligpreisungen dargestellt sind. Dazwischen ranken sich von Putten gehaltene Festons. In einer von Schönermark konzipierten Ausstattung stellt diese aufwändige figürliche Malerei einen einzigartigen Fall dar.

Auch die ornamental verglasten Fenster sind farbig in Grau-, Grün-, Gelb- und Blautönen gestaltet. Das mittlere der drei Chorfenster, von K.J. Schultz aus Marburg angefertigt, stellt den an die Tür klopfenden Christus dar. Das Motiv orientiert sich an dem zu Beginn der 1850 er Jahre entstandenen Gemälde "The Light of the World" des Präraffraeliten William Holman Hunt (1827 - 1910), das auf dem Kontinent durch Öldrucke weite Verbreitung fand.

Die seitlichen Fenster, gerahmt von zartfarbenen Arabesken, enthalten in Medaillons die Evangelistensymbole, die im Plattenbelag des Chors wiederaufgenommen werden.

Vor dem südlichen Chorpfeiler ist die in Form eines überdimensionierten Abendmahlkelchs gearbeitete Steinkanzel aufgestellt, deren Korb fast mit der Emporenbrüstung abschließt. Er ruht auf einem großen Baluster und wird im unteren sich vorwölbenden Bereich von in Gold gefassten Akanthusblättern überzogen. Unter dem vorkragenden Abschlussgesims umgibt ihn eine Draperie mit Fransen und Troddeln, die ebenfalls vergoldet sind. Weniger wuchtig, jedoch ebenfalls in neubarockem Dekor, zeigt sich die dreitürmige Orgel, deren beide Seitenteile den halbrund vorspringenden, niedrigeren Mittelturm einfassen.

Die um 1900 einsetzende Historismuskritik, die sich mit dem Ausbreiten der Moderne zu einer dezidiert abwertenden Haltung gegenüber der Verwendung historischer Stilmittel entwickelte, schlug sich in den nachfolgenden Kirchenrestaurierungen, insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren, in einer stark purifizierenden (bereinigenden, Anm. d. Red.) Herangehensweise nieder, so dass Wand- und Deckenmalereien entfernt, holzsichtige Gestühle überstrichen und wichtige Ausstattungsstücke ausgesonder twurden. Original in ihrer Gesamtheit erhaltene historistische Kirchenausstattungen sind daher selten geworden. Insofern stellt der Erhaltungszustand der Balhorner Kirche - nicht nur im Werk Gustav Schönermarks- eine Ausnahme dar. Von den Malereien über die Emporen, die Orgel bis hin zu den Kerzenleuchtern ist die Ausstattung des 19. Jahrhunderts bewahrt worden. Nicht zuletzt verdankt sich diese Tatsache der Art des Ineinandergreifens der einzelnen Ausstattungselemente, die so stark aufeinander abgestimmt sind, dass die Herausnahme eines Elements eine nicht zu ersetzende Lücke hinterlassen würde. Hervorzuheben ist außerdem, dass sich Schönermark in diesem Fall entgegen seiner architektonischen Herkunft für die neubarocke Stilrichtung entschieden hat.

Eine neubarocke Kirchenausstattung ist in dieser Phase des Historismus äußerst selten zu beobachten und bedarf allein schon aufgrund dieser historischen Stellung einer besonderen denkmalpflegerischen Aufmerksamkeit; dies umso mehr, als sie ein Deckengemälde des später in Hannover als Professor an der Kunstgewerbeschule tätigen Malers Karl Wiederhold umfasst (vgl. Künstlerlexikon Thieme-Becker und Vollmer). Insgesamt ist also in Balhorn das Gesamtkonzept eines historischen Kirchenraums, zu dem auch das "Klangdenkmal" der Orgel als wesentlicher Beitrag gehört, so gut nachvollziehbar, dass es als erlebbare historische Quelle sorgsam für nachfolgende Generationen konserviert werden sollte.




Die evangelische Kirche Balhorn nach der Restaurierung und Renovierung in 2007



zurück zur Startseite    nach oben